Angus und Caer

In den Tagen, als die Tuatha Dè Danann im Innern der Hügel Irlands residierten, wurde ein Prinz jenes Feenvolkes auf sonderbare Weise von Liebe ergriffen. Sein Name war Angus, und da er ein Sohn des Hochkönigs der Tuatha, Dagda, war, nahmen alle um ihn herum Anteil an seiner Trübsal. Und so trug sich die Begebenheit im Einzelnen zu:

Eines Nachts nahm Angus im Traum das Rascheln von Seide und den Duft von Apfelblüten wahr. In dem Schatten neben seinem Bett erblickte er ein flimmerndes Licht, das zu einer strahlenden Säule anwuchs, die bebte und flackerte, bis sie schliesslich die Gestalt einer Frau annahm. Die Frau spielte auf einer Laute eine so betörende Melodie, daß Angus das Herz stillzustehen schien. Als die letzten Töne verhallten, löste sich die anmutige Gestalt auf, und zurück blieb nur der süße Duft von Apfelblüten.

In den folgenden Nächten erschien Angus im Traum wieder dieselbe begehrenswerte, aber unerreichbarer Gestalt. So ging es ein ganzes Jahr lang. Der Prinz zog sich immer mehr von seinen Gefährten zurück, und die Sehnsucht nach der schönen Frau aus seinen Träumen ließ ihn zunehmend schwächer werden, Ja, schließlich drohte Angus zugrunde zu gehen an dem Verlangen, das die Iren "Liebe aus der Ferne" nennen.

Als der Dagda von den Qualen seines Sohnes erfuhr, befahl er, in ganz Irland nach der Jungfrau zu suchen. Monatelang durchkämmten die Heerscharen der Tuatha die entlegensten Gebiete der Insel, bis ihrer Suche zu guter Letzt in den Galty-Bergen an einem See, der "Drachenschlund-See" genannt wurde, Erfolg beschieden war. Eilends brachten sie den bedauernswerten Prinzen dorthin.

Es war ein friedlicher Ort voller Schönheit:

Im unbewegten Wasser des von grünem Schilf gesäumten Sees spiegelten sich die vorüberziehenden Wolken. Und schon nach kurzer Zeit entdeckte Angus im Schilf eine Schar Feen in flatternden Gewändern, die so weiß waren wie Apfelblüten.

Die Jungfrauen wandelten völlig geräuschlos paarweise durch das Schilf, und jedes Paar war durch ein Silberkettchen miteinander verbunden. Nur eine von ihnen ging allein. Sie war größer als die anderen und trug ein goldenes Kettchen.

"Das ist die Frau", sagte der Prinz. "Es ist Caer Ilbormeith, die Tochter von Ethal Anubal, dem König des Feenvolkes von Connacht", erklärte einer der Tuatha-Könige. "Ihn müssen wir um seine Tochter bitten, doch eine Zustimmung wird nicht einfach zu erhalten sein."

Und diese Befürchtung bewahrheitete sich: Ethal Anubal war nicht einmal bereit mit ihnen zu sprechen. Darauf stürmten Dagdas Truppen die Festung.

In der erbitterten Schlacht, die darauf folgte, nahmen die Krieger der Tuatha den König Ethal gefangen. Als Preis für seine Freilassung forderte der Dagda Ethals Tochter für seinen Sohn Angus. Doch Ethal lehnte die Forderung ab. Er sagte, er könne nicht über sie bestimmen, da sie über weitaus größere Kräfte verfüge als er. Sie lebe zusammen mit ihren Gespielinnen ein Jahr lang in der Gestalt einer Jungfrau und in dem darauffolgendem Jahr in der Gestalt eines Schwanes. Und nur als Schwan sei sie bereit einen Mann zu empfangen.

"Wann wird sie wieder zu einem Schwan?" fragte einer der Krieger.

Ethal erklärte, was zu tun sei. Angus müsse in der nächsten Samain-Nacht zum Drachenschlund-See gehen und Caer, die ihm dann als Schwan erscheinen würde, selbst um ihre Hand bitten.

Am Samain-Abend begaben sich Angus und Dagda wieder zum Drachenschlund-See. Dort gewahrte Angus im Schilf einige Paare von blütenweißen Schwänen, die jeweils durch silberne Kettchen verbunden waren.

Inmitten der Schwanenschar schwamm ein einzelner mit einem goldenen Kettchen. Er blickte auf das Wasser und betrachtete versonnen sein Spiegelbild. Angus sprach ihn vom Ufer aus an.

"Wer ruft mich?" fragte der Schwan. "Angus ruft dich", antwortete der Prinz. "Ich werde mit dir kommen, wenn du mir bei deiner Ehre schwörst, daß ich jederzeit zu meinen Gefährtinnen auf den Drachenschlund-See zurückkehren darf." "Ich schwöre es", erklärte Angus.

Daraufhin glitt der Schwan majestätisch auf das Seeufer zu, wo der Prinz stand. Im nächsten Augenblick konnten der Dagda und seine Gefolgsleute Angus nicht mehr sehen. Statt dessen schwammen jetzt zwei Schwäne auf dem Wasser.

Die beiden großen Vögel, hinter denen sich Angus und Caer verbargen, schwammen dreimal zusammen um den See. Dann hoben sie ab und ließen sich langsam vom Wind ostwärts über die Hügel Irlands tragen.

Bei Angus` Schloss angekommen, kreisten die Schwäne singend um die Zinnen der Türme. Ihr Gesang war von so bezaubernder Sanftheit, daß sich überall tiefer Frieden ausbreitete. Die Hunde dösten friedfertig in ihren Zwingern, die Pferde standen schläfrig in ihren Ställen.

Drei Tage lang zogen die Liebenden in Schwanengestalt ihre Kreise über das Schloss und sangen dabei ihr Hochzeitslied.

Von da an blieb Caer ihr ganzes Leben lang bei Angus; bisweilen nahmen beide ihre menschliche Gestalt an, bisweilen flogen sie wild und frei als Schwäne.